Harry Schaeffer – Ein liebenswerter Zeitgenosse

Am vergangenen Montag hat uns eine schreckliche Nachricht ereilt. Unser langjähriger ITF-Schiedsrichter Harry Schaeffer ist in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar im Alter von 65 Jahren verstorben – Wir werden Dich mit Deiner guten Laune, freundlichen Art und Gelassenheit in egal welcher Situation vermissen. Du wirst uns immer in Erinnerung bleiben.

Nachruf auf Harry Schaeffer

Am 04. Juli 1954 gewann die bundesdeutsche Nationalmannschaft im Berner Wankdorf-Sta-dion vor 60.000 im strömenden Regen ausharrenden Zuschauern und in 20.000 heimischen Fernsehern überraschend das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft gegen die haushoch fa-vorisierte Elf aus Ungarn. Dieses Ereignis sollte als das „Wunder von Bern“ in die Kulturge-schichte eingehen, riss es doch die Bevölkerung der noch jungen Bundesrepublik auf einen Schlag aus der kollektiven Depression der Nachkriegszeit und markierte symbolisch den Be-ginn des so genannten deutschen Wirtschaftswunders und somit auch das Ende gravierender Entbehrungen. 

Äußerst freudvoll dürfte dieser Tag auch für die Eheleute Margarethe und Heinrich Schaeffer gewesen sein – allerdings aus einem anderen Grund –, denn an diesem Tag wurde ihr Sohn Harry geboren. 

Aufgewachsen als Sohn einer ihn liebevoll umsorgenden Mutter und eines bei der bayerischen Landeshauptstadt tätigen Bauingenieurs, durfte Harry bereits als kleiner Bua im Alter von fünf Jahren seine Schwester Angelika („Geli“) auf der Bühne des Lebens begrüßen, um bald darauf gemeinsam mit ihr – gestärkt durch engen Zusammenhalt in einer durch und durch tennisver-rückten Familie – die Sandplätze des 1966 gegründeten TC Grün-Weiß Nord München zu er-obern. Jahrelang verteidigten Harry und Geli Ruhm und Ehre der hiesigen Clubmannschaften in tapfer geschlagenen Filzkugel-Schlachten, und hiermit wurde – so dürfen wir annehmen – der Grundstein für Harrys (und auch Gelis) spätere Leidenschaft gelegt: die Tennis-Schieds-richterei. 

Dem Ernst des Lebens stellte sich Harry zunächst durch den Besuch des Münchner Asam Gym-nasiums, um nach bestandenem Abitur sowie absolviertem Wehrdienst das Studium der Elekt-rotechnik an der TU München aufzunehmen und dort 1983 mit einem Diplom abzuschließen. Anschließend war Harry einige Zeit freiberuflich als Ingenieur tätig. 

Auch während des Studiums verschwand der Sport nicht aus seinem Leben. Neben seiner Lei-denschaft für den Tennis- und später auch den Wintersport (hierin allerdings nicht selbst aktiv) übte Harry sich in den Disziplinen der Leichtathletik, wo es ihm vor allem das Kugelstoßen angetan hatte. Dennoch: Es war der Tennissport, der Harrys größte Leidenschaft bleiben und seinen weiteren Lebensweg ganz entscheidend prägen sollte. 

Und so ging dann alles ziemlich zügig. Anfang der 1980er Jahre entschloss Harry sich dazu es mit dem Tennis einmal aus einer anderen Perspektive zu versuchen und machte seine ersten Erfahrungen auf dem Schiedsrichterstuhl. Als Linienrichter bei den BMW Open 1983 in Mün-chen im Einsatz, wurde Harry unverhofft zum international noch ungeprüften (!) Schiedsrich-ter des Finales, da dieses wetterbedingt erst am Montag ausgetragen werden konnte und der ursprünglich dafür vorgesehene Schiedsrichter aus Termingründen nicht mehr zur Verfügung stand. Ein Finale übrigens, dass es in sich hatte: Der Tscheche Tomáš Šmíd bezwang den da-maligen Emporkömmling aus Schweden, Joakim Nyström, in hart umkämpften fünf Sätzen mit 6:0, 6:3, 4:6, 2:6, 7:5. Bald darauf erwarb Harry dann sein erstes internationales Schiedsrich-ter-Abzeichen, und zwar bereits auf einem der ersten jemals durchgeführten internationalen Schiedsrichter-Lehrgänge in Basel, die damals noch vom MIPTC (Men’s International Professi-onal Tennis Council) ausgetragen wurden. Seither widmete er sich ausschließlich der Tennis-Schiedsrichterei. 

Dies geschah zu einer Zeit, in der sich hierzulande heimlich, still und leise das zu entwickeln begann, was sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zu einem waschechten Tennis-Boom auswachsen sollte, der bis in die späten 90er anhielt und bis heute seinesgleichen sucht. Als der erst siebzehnjährige Boris Becker 1985 völlig überraschend das legendäre Wimbledon-Fi-nale gegen den Südafrikaner Kevin Curren für sich entschied und zwei Jahre später Steffi Graf im selben Alter ihr erstes Grand Slam-Turnier in Paris gewinnen sowie die Saison erstmalig als Weltranglistenerste mit 75 gewonnenen und nur zwei verlorenen Matches abschließen sollte, war es um die Deutschen endgültig geschehen: Millionen Bundesbürger begannen sich eine glänzende Tennisprofi-Karriere ihrer Kinder zu erträumen, traten in Tennis-Clubs ein oder ver-brachten ganze Nächte vor dem Fernseher, um die legendären Siege und tragischen Niederla-gen ihrer Tennis-Heldinnen und -Helden mitzuerleben. 

So erging es vermutlich auch Harry, wofür jedenfalls spricht, dass er hunderte von VHS-Video-Kassetten und später dann auch DVDs mit Aufnahmen von im Fernsehen gesendeten Tennis-Matches archivierte. Und so erklärt sich vielleicht auch, dass Harry, der auf allen Kontinenten außer Australien als Schiedsrichter tätig war, seine offenkundige Leidenschaft für diese Tätig-keit nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck brachte, dass er sämtliche Score Cards der von ihm geleiteten Matches sammelte; und zwar auch dann noch, als die PDAs eingeführt wurden und es seitdem nur noch möglich war, die digital erstellten Score Cards online abzurufen und bei Bedarf auszudrucken. Wohl alle seiner langjährigen Kolleginnen und Kollegen werden sich mit einem Lächeln auf den Lippen daran erinnern, wie hartnäckig Harry darin sein konnte, an die ausgedruckten Score Cards der von ihm geleiteten Matches zu gelangen. 

Zu Beginn der 90er Jahre erhielt Harry von der ITF das Silver Badge verliehen und fortan war er weltweit auf zahlreichen großen Turnieren der ATP und WTA sowie bei mehreren Davis Cup-Begegnungen und einmal auch bei den US Open im Einsatz. In Deutschland arbeitete Harry zusätzlich auch auf Bundes- und Regionalliga-Begegnungen, ATP Challenger-Turnieren, und bis zuletzt auch auf ITF Pro Circuit Events sowie auf internationalen Jugend-Turnieren. 

Harry gehört damit zu den dienstältesten deutschen Tennis-Officials. Bei seinen ersten inter-nationalen Matches war der später weltweit ungemein beliebte und berühmte deutsche Ten-nis-Schiedsrichter und Mitbegründer der DTSV (Deutsche Tennis Schiedsrichter Vereinigung), Rudi Berger, noch als Linienrichter auf dem Platz. Man kann in Harry daher zurecht ein „Urge-stein“ des deutschen Schiedsrichterwesens sehen. 

Harry war ein sehr bescheidener, ruhiger, stets gelassener und vollkommen unprätentiöser Kollege. Seine Gelassenheit war selbst in brenzligen Situationen nicht einmal ansatzweise zu erschüttern: Als er während eines zunehmend hitzigen Matches von einem Kollegen ersetzt und später dann auch noch zum Schutz vor dem aufgebrachten Spieler durch den Hinteraus-gang in ein anderes Hotel gebracht werden musste, fragte Harry nur lässig: „Wozu der ganze Aufwand?“ Kollegialität und Hilfsbereitschaft waren für Harry selbstverständlich: Wann immer er gebraucht wurde, um z. B. einen ausgefallenen Schiedsrichter zu ersetzen, war er zur Stelle. Lässigkeit und Fröhlichkeit beim Münzwurf mit den Spielern am Netz – seine Brille hing stets locker im V-Ausschnitt seines Pullovers – waren ebenso Harrys Markenzeichen wie sein ver-schmitztes Lächeln und sein unvergleichlich ansteckendes Lachen. Auch seine sehr eigenwil-lige Betonung der von ihm angesagten Spielstände bleibt unvergesslich. 

Legendär waren nicht zuletzt seine jahrzehntelange Nutzung von Schirmmützen und sonstigen Kleidungs- und Gepäckstücken aus aller Welt wie auch sein guter Appetit zu jeder Zeit. 

Harry war schließlich auch ein guter Erzähler und hatte stets die eine oder andere nette Ge-schichte auf Lager. Und da wir alle letztlich nur in den Erzählungen unserer Mitmenschen über-dauern, mögen noch viele kleine Geschichtchen und Anekdoten unsere Erinnerungen an Harry lebendig halten. 

Harry hatte seinen letzten Einsatz beim kürzlich ausgetragenen ITF Herren-Turnier in Ober-haching. Er verstarb einen Tag später, in der Nacht vom 23. Auf den 24. Februar 2020, im Alter von 65 Jahren völlig unerwartet an den Folgen einer verschleppten Erkältung in seiner Woh-nung in München-Au. Harry hinterlässt seine einzige Schwester Geli, zu der er ein sehr inniges Verhältnis hatte. Er wird am 19. März 2020 auf dem Westfriedhof in München bestattet. 

Die DTSV trauert um einen äußerst liebenswerten und angenehmen Zeitgenossen. 

Nico Naeve
Deutsche Tennis Schiedsrichter Vereinigung
— Präsident des Vorstandes —